Briefgeheimnis

Briefesaeule-7

Zur Installation „Briefgeheimnis“

Erster Aspekt
Ein Brief und besonders das Briefgeheimnis scheint mir, obwohl wir uns an seinen gesetzlichen Schutz längst gewöhnt haben, ganz aktuell wieder ein besonderer Wert zu sein. Mit dem Argument, terroristische Akte und Selbstmordkommandos präventiv zu verhindern, wurde das Briefgeheimnis in den USA inzwischen stark eingeschränkt, manche meinen, de facto sogar aufgehoben. Übrigens ohne jeden nennenswerten Protest. Von dieser Entwicklung ist das gute alte Europa wohl nicht mehr sehr weit entfernt. Die ‚geheimnisvolle‘ Säule könnte diesbzgl. als Warnung fungieren, als eine Warnung vor dem Kontroll- und Überwachungsstaat. Vor diesem Kontext mag sie wie ein im Raum stehendes Ausrufezeichen anmuten. 

Zweiter Aspekt
Daneben hat die Briefsäule auch einen Designaspekt. Sie kann als nützlich betrachtet werden. Sie kommt gänzlich ohne Ornamentik aus, auch ohne postmodern Zitiertes, weist aber ein ins Auge springendes Merkmal auf: das der Transparenz, die durch einen Sockel nach unten verdichtet ist. Das Transparente scheint dem Geheimnischarakter zunächst zu widersprechen. Da ihre Maße an den DIN- Formaten von Briefumschlägen orientiert sind, kann die Säule als Prototyp gelten, der durchaus für eine serielle Fertigung und Nutzung geeignet ist. Sollte also jemand der Betrachter/innen an diesem eleganten und nützlichen Archivmöbel ein Interesse haben, würde mich das freuen. 

Dritter Aspekt
Der Inhalt der Säule umfasst private Briefe und Postkarten, die zwischen 1970 und 2007, ungefähr in den letzten 4 Jahrzehnten, an mich gesandt wurden. Die Gegenstücke dieser Korrespondenz finden sich, falls welche existieren und abgesehen von einer Ausnahme, bei den jeweiligen Absenderinnen und Absendern. Es handelt sich also um Briefe und Karten von Freunden und Freundinnen, Verwandten, Bekannten, Kollegen, ehemaligen Studierenden, von Mutter und Geschwistern sowie von einigen Unbekannten, mit deren Namen ich heute beim besten Willen nichts mehr anfangen kann. Manche enthalten wertvolle Dokumente, so z.B. ein fachlicher Austausch mit der Architektin Lucy Hillebrand oder eine Beschreibung des Sterbeprozesses von Umbo, dem berühmten Fotografen der 20er Jahre, verfasst von seiner Schwester. Insgesamt sind es ca. 1000 Briefe von ca. 100 verschiedenen Personen. Der sog. Zufall wollte es, dass sie an diversen Orten aufbewahrt wurden oder besser: nicht im Müll landeten und viele Umzüge überlebten. Nachdem ich sie nach langer Zeit wiederentdeckt und einen nach dem anderen gelesen und einige auch an die Absender zurückzugeben versucht hatte, entwickelte sich die Idee zur Briefsäule. Die hinter der Korrespondenz stehende menschliche Tätigkeit sollte bewahrt werden; aber ich wollte die Briefe nicht wieder und wieder lesen, entstauben, sortieren, herumtragen, deuten und verstauen. So ist die Säule auch eine Zäsur. Sie beendet Gewesenes, ohne es zu vernichten. Sie schließt es ein, schafft aber auch Distanz und verweist auf das Geheimnisvolle des Lebens. Zeitlich gesehen bezeichnet sie den Übergang vom Analogen zum Digitalen, vom alten Brief zur elektronischen Post, die bei aller Codierung künftig wohl kein Geheimnis bleiben wird. Und da schließt sich der Kreis. 

AEH, im März 2007